Eine Lady gegen die Pocken

Haben Sie den Namen Lady Mary Wortley Montagu schon einmal gehört? Wenn ja, dann kennen Sie sie wahrscheinlich als Schriftstellerin – als Verfasserin nahezu unzählbarer Briefe die wir heute nicht nur als literarischen Schatz in Händen halten, sondern auch als wertvolles Zeitdokument. Für Wien hat sie besondere Bedeutung, verdanken wir ihr doch eine ungemein lebhafte Beschreibung der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt am Anfang des 18. Jahrhunderts!

Für Wien hat sie aber auch in einem vollkommen anderen Zusammenhang enorme Bedeutung: Sie war es, die die Idee einer Impfung gegen die Pocken aus dem Orient nach Europa brachte – eine Idee, die Jahre später auch von Kaiserin Maria Theresia aufgegriffen wurde!

Doch nicht nur diese Tatsache, sondern ihr ganzer Lebensweg ist höchst bemerkenswert!

Wie so oft bei historischen Persönlichkeiten wissen wir auch im Falle Lady Mary Montagus nicht, wann sie tatsächlich geboren wurde. Überliefert ist uns aber ihr Taufdatum – der 26. Mai 1689. Da Mary wahrscheinlich in Thoresby Hall - dem Sitz der Familie Pierrepont in der Grafschaft Nottinghamshire  - zur Welt kam und am 26. Mai 1689 in der St Paul’s Church in Covent Garden (London) – also vermutlich rund 250 Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt getauft wurde, ist anzunehmen, dass ihr Geburtstag nicht wie das sonst oft der Fall ist mit ihrem Taufdatum zusammenfallen kann. (www.fembio.org und Melville, S. 14)

Als sie geboren wurde, hatte ihr Vater als jüngerer Sohn eigentlich keine Aussicht auf das Erbe der Grafschaft, doch seine beiden älteren Brüder starben, so dass ein Jahr nach Marys Geburt ihr Vater Evelyn Pierrepont zum fünften Earl of Kingston-upon-Hull wurde. Ihre Mutter starb früh, in ihrer frühen Kindheit verbrachte Mary viel Zeit bei ihrer Großmutter väterlicherseits. Bereits mit neun Jahren war sie aber wieder zurück am Familiensitz, denn auch ihre Großmutter war verstorben. (Melville, S. 14ff. und Grundy) Von nun an war die Bibliothek des Herrenhauses von Thoresby Hall so etwas wie ihr Lebensmittelpunkt wo sie alles las, was ihr in die Finger fiel. Durch die Lehrer ihres Bruders – oder möglicherweise sogar durch Selbststudium – lernte sie Griechisch und Latein. Trotzdem das ebenso wenig wie ihre frühe Beschäftigung mit Literatur zu den typischen Beschäftigungen einer jungen Lady am Beginn des 18. Jahrhunderts zählte, war ihr Vater stolz auf seine intelligente und auch äußerst lebhafte Tochter. (Melville, S. 17ff.)

Wenige Jahre später sollte es jedoch zum Konflikt mit dem Vater kommen, da dieser ihrer Heirat mit Edward Wortley Montagu nicht zustimmen wollte. Er war der Bruder ihrer jung verstorbenen Freundin Anne Wortley, mit dem Mary nun korrespondierte. Trotz zahlreicher bemerkenswerter Werbungsbriefe Marys, scheint sie sich aber in jemand anderen verliebt zu haben. Wer dieser Mann war, wissen wir heute nicht, jedenfalls scheint klar gewesen zu sein, dass eine Heirat mit ihm nicht infrage kam. Da Marys Vater nun aber Druck auf sie ausübte, einen anderen zu ehelichen, brannte sie schließlich mit Edward durch und wurde seine Frau. Ihm fühlte Mary sich ihr Leben lang tief verpflichtet – schließlich hatte er sie auch ohne Mitgift genommen! (Grundy)

Die erste Zeit ihrer Ehe verbachte Mary auf dem Landsitz ihres Gatten und in London wo sie 1715 auch an den Pocken erkrankte. Ein Jahr später begleitete sie ihn nach Konstantinopel wohin er als englischer Botschafter berufen worden war. Auf ihrem Weg dorthin verweilte sie auch in Wien – und hinterließ uns bemerkenswerte Beschreibungen der Stadt. (Grundy)

Die recht kurze Zeit im Osmanischen Reich sollte in der Rückschau einer der wichtigsten Abschnitte ihres Lebens werden. Denn in dieser Zeit lernte sie eine im Orient schon seit langem geübte Praxis zur Immunisierung gegen die Pocken kennen.

Die Pocken gehören zu den ältesten und verheerendsten Seuchen, die jemals die Menschheit heimsuchten. Wahrscheinlich schon in der Jungsteinzeit bei den ersten Ackerbauern aufgetreten, haben wir die ersten Belege für die Seuche bei ägyptischen Mumien. Auch in China werden die Pocken schon um 400 v.Chr. erwähnt. Bis zum 18. Jahrhundert starben in Europa jährlich zwischen 200.000 und 600.000 Menschen an den Pocken. (Dinc/Ulman, S. 4261f.)

Doch auch Methoden der Immunisierung wurden bereit seit langem erprobt. In Indien und China wurden durch den Kontakt mit Pustelsekret leichte Erkrankungen ausgelöst, die in der Folge zu einer Immunisierung führten. Den gleichen Zweck verfolgte man durch den Kontakt zu Kindern mit mildem Krankheitsverlauf. Systematische Immunisierungen waren in Europa aber bis ins 18. Jahrhundert weitgehend unbekannt. Ab 1713 nahm die Entwicklung allerdings Fahrt auf. In diesem Jahr nämlich publizierte der in Konstantinopel praktizierende Arzt Emanuele Timoni eine Abhandlung über die im Orient gebräuchliche Methode. Den echten Durchbruch allerdings verdankt das Verfahren Lady Mary Wortley Montagu! (Flamm/Vutuc, S. 265)

Sie hörte von dem Verfahren während ihres Aufenthalts im Osmanischen Reich und informierte sich genau darüber. Was sie hörte, ließ in ihr die Gewissheit reifen, dass diese Methode ungefährlich und höchst nützlich sei und so ließ sie ihren fünf Jahre alten Sohn 1718 von einer alten Frau inokulieren. Ihrem Gatten allerdings erzählte sie erst einige Tage danach als klar war, dass der Knabe die Prozedur gut überstanden hatte, von der Behandlung. (https://en.wikipedia.org/wiki/Charles_Maitland_(physician))

In einem Brief an Miss Sarah Chiswell berichtete Mary über das Verfahren:

[…] A propos Krankheiten; ich kann Ihnen da von einer Sache berichten, die Sie selbst gern hier miterlebt hätten. Die Pocken, diese üble und bei uns so weit verbreitete Krankheit, ist hier vollkommen harmlos infolge der Erfindung der Einpfropfung, wie es hier genannt wird. Ein paar alte Frauen haben sich auf dieses Verfahren spezialisiert und praktizieren es jeden Herbst im September, sobald sich die große Hitze gelegt hat. Die Leute fragen dann herum, ob in irgendeiner Familie jemand die Pocken bekommen soll. Dann veranstalten sie Zusammenkünfte zu diesem Zweck, und wenn nun die Leute zusammen gekommen sind, meist so etwa fünfzehn bis sechzehn, dann kommt eine dieser alten Frauen mit einer Nussschale voll von schönster Pockenmaterie und fragt, welche Vene man denn gern geöffnet hätte. […](zitiert nach: Eckart, S. 2.)

Obwohl Mary selbst von der Methode restlos überzeugt war, hegte sie ein gesundes Misstrauen gegenüber der Aufnahmebereitschaft der englischen Ärzteschaft für die neue Methode und sparte in dem selben Brief an Sarah Chiswell nicht an Kritik an den Medizinern:

[…]Als Patriotin werde ich mir die Mühe auferlegen, diese nützliche Erfindung auch in England in Mode zu bringen. Ich würde nicht zögern, unseren Doctores in allen Einzelheiten über diese ganze Geschichte zu berichten. Wenn doch nur einer von diesen Kerlen, an die ich denke, genug Anstand im Leib hätte, danach – zum Nutzen der gesamten Menschheit – auf gewohnte Einkünfte [aus der Behandlung der Pockenkrankheit] zu verzichten. Ich fürchte indes, diese Krankheit füllt ihnen zu sehr die Beutel, so dass der kühne Wicht, der all dem ein Ende setzen könnte, wohl nicht in Erscheinung treten wird. Aber gleichwohl, falls ich es erlebe [in die Heimat] zurückzukehren, will ich es wagen, den Kampf gegen sie aufzunehmen. […](zitiert nach: Eckart, S. 2f.)

Die Familie Montagu ging bald darauf zurück nach England. Doch das Thema „Pocken“ war damit für Mary keineswegs erledigt, ganz im Gegenteil!

Denn 1721 wütete wieder einmal eine verheerende Pockenepidemie in England. Allein in Boston erkrankten von den rund 10.700 Einwohnern 5.759! (Dinc/Ulman, S. 4262) Nun war es für Mary an der Zeit, auch ihre kleine Tochter inokulieren zu lassen. Diesmal war es Charles Maitland, der auch schon bei der Behandlung ihres Sohnes in der Türkei dabei gewesen war, der das Mädchen der Behandlung unterzog – allerdings nicht, ohne die Sicherheit des Verfahrens zuerst an sechs verurteilten Mördern zu testen.  Obwohl Mary Wortley Montagu für die Impfung ihrer Kinder heftig kritisiert wurde, erwies sich genau das als der Durchbruch. Denn die erfolgreiche Immunisierung der beiden Kinder veranlasste in der Folge zahlreiche Mitglieder der Oberschicht, sich ebenfalls der Prozedur zu unterziehen. (Dinc/Ulman, S. 4264)

In Österreich wurde die planmäßige Inokulation unter Maria Theresia begonnen. Sie war selbst an den Pocken erkrankt, genas aber wieder. Drei ihrer Kinder und ihre beiden Schwiegertöchter hatten weniger Glück, sie starben an den in Österreich so genannten „Blattern“. 1768 wurden daher unter der Aufsicht von Maria Theresias Leibarzt Anton von Störck zuerst einige Kinder im Waisenhaus inokuliert. Danach ließ die Kaiserin drei ihrer Kinder und die einzige Tochter Kaiser Josephs II ebenfalls immunisieren. Zwei Jahre später ließ sie am Rennweg ein regelrechtes „Inoculationshaus“ errichten. (Flamm/Vutuc, S. 266)

Die Inokulation blieb trotz ihrer zunehmenden Verbreitung im 18. Jahrhundert aber höchst umstritten. Denn meist verliefen die durch das Verfahren ausgelösten Reaktionen sehr mild, es konnte aber auch zu schweren Krankheitsausbrüchen kommen. (Eckart, S. 3)

Die Wende sollte erst einer erreichen, der selbst von den frühen Immunisierungsversuchen profitiert hatte. Denn unter den in England in den 1750er Jahren inokulierten Kindern war übrigens auch ein acht Jahre alter Bub namens Edward Jenner – dieser Knabe sollte die Immunisierung auf ein neues Niveau bringen und den Weg hin zu modernen Impfungen ebnen, indem er ab 1798 die Immunisierung durch Kuhpocken statt Menschenpocken erreichte! (Dinc/Ulman, S. 4264 und Flamm/Vutuc, S. 266) Lady Mary Wortley Montagu selbst schrieb auch weiterhin und führte insgesamt ein eher turbulentes Leben. Sie starb 1762 in London (Grundy) – doch das ist eine andere Geschichte!

 

Bildnachweis: August Stauda (Fotograf), 15., Schmelzer Friedhof (heute Märzpark) - Grabmal - Gruppe von Grabsteinen , um 1903, Wien Museum Inv.-Nr. 29095/7, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/362835/)

 

Quellen und Infos:

 

Gulten Dinc, Yesim Isil Ulman The introduction of variolation ‘A La Turca’ to the West by Lady Mary Montagu and Turkey’s contribution to this. In: Vaccine 25 (2007) 4261–4265.

Wolfgang U. Eckart, Jenner: Untersuchungen über die Ursachen und Wirkungen der Kuhpocken, Berlin 2016.

Heinz Flamm/Christian Vutuc, Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich. In: Wiener klinische Wochenschrift, The Middle European Journal of Medicine, 9–10/2010 , S. 265–275.

Isobel Grundy,  Montagu, Lady Mary Wortley [née Lady Mary Pierrepont] (bap. 1689, d. 1762), writer. Oxford Dictionary of National Biography. Retrieved 26 May. 2021, from https://www.oxforddnb.com/view/10.1093/ref:odnb/9780198614128.001.0001/odnb-9780198614128-e-19029.

Lewis Melville, Lady Mary Wortley Montague. Her Life an Letters (1689-1762) , London 1925.

https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/lady-mary-wortley-montagu/#literatur

https://en.wikipedia.org/wiki/Charles_Maitland_(physician)