Eine Agentin Ihrer Majestät
Nur wenige Frauen des Mittelalters haben schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Eine die es tat, war Helene Kottannerin. Doch das bemerkenswerteste an der königlichen Kammerfrau ist nicht ihre Rolle als Autorin sondern eine äußerst delikate Affäre in deren Mittelpunkt sie stand und die sie auch in ihrem Werk äußerst detailgetreu, aber vor allem mit starkem Selbstbewusstsein für ihre wichtige Rolle, schilderte. Denn nur dank ihres Einsatzes, ganz im Stile eines Agententhrillers, konnte Ladislaus Postumus zum rechtmäßigen ungarischen König gekrönt werden.
Denn als Ladislaus am 22. Februar 1440 das Licht der Welt erblickte war sein Vater König Albrecht II seit rund einem halben Jahr bereits verstorben. Daher trug der Knabe nicht nur den Beinamen „Postumus“, also „der Nachgeborene“, sondern hatte auch noch mehr um sein Erbe zu fürchten als andere Königssöhne.
Die Mitte des 15. Jahrhunderts war eine turbulente Zeit. Kaiser Sigismund hatte keinen Sohn und favorisierte den Mann seiner Tochter Elisabeth, den Habsburgischen Herzog Albrecht V. (später als König Albrecht II.) als einen Nachfolger. Als der Kaiser 1437 starb, wurde sein Schwiegersohn im Dezember desselben Jahres von den Ungarischen Ständen zum König gewählt. Im darauffolgenden Jahr wurde er auch zum deutschen König gewählt und konnte die Nachfolge seines Schwiegervaters in Böhmen antreten.
Doch die politischen Verhältnisse waren keineswegs gesichert und als der König bereits ein Jahr später starb, war so mancher begierig ihn zu beerben zumal Albrecht II zum Zeitpunkt seines Todes keinen Sohn hatte.
Die Betonung dabei liegt allerdings auf „zum Zeitpunkt seines Todes“, denn als Albrecht starb, war seine Frau Elisabeth wie gesagt schwanger und man durfte auf einen Thronerben hoffen. Das bloße Vorhandensein eines Erben allerdings reichte freilich nicht aus, um die Nachfolge auch tatsächlich zu sichern.
Denn die Regelung der Nachfolge war im Mittelalter aber nicht bloß eine politische Frage oder eine Frage von Machtverhältnissen, sondern sie war auch stark mit Symbolen aufgeladen. So war eine rechtmäßige Krönung zum König von Ungarn nur mit der heiligen Stephanskrone möglich. Daher war der Besitz dieses Kleinods von entscheidender Bedeutung.
Folgt man den Erinnerungen der Kottannerin in ihren „Denkwürdigkeiten“, dann hatte die Königin-Witwe Elisabeth das sehr rasch erkannt und ihrer treuen Dienerin noch lange vor der Niederkunft aufgetragen, die Krone auf der Plintenburg (im heutigen Visegrád) zu bewachen, wohin noch König Albrecht das wertvolle Stück gebracht hatte, und sie schließlich in Sicherheit zu bringen.
Die Königin wollte damit einerseits die rechtmäßige Krönung absichern, sollte sie einen Sohn gebären und sich andererseits eine bessere Verhandlungsposition sichern, wenn sie doch eine Tochter zur Welt bringen sollte, denn die Ungarischen Magnaten trachteten danach, die Königin mit ihrem Wunschkandidaten zu verheiraten.
Die Krone befand sich also auf der Plintenburg, die Königin selbst aber verließ die Burg, da sie fürchtete, dort mitsamt ihrem neugeborenen Kind festgesetzt zu werden. Die Kottannerin aber sollte in größter Heimlichkeit die Krone und einige Schmuckstücke der Königin aus dem versiegelten Schatzgemach bergen. Nach einigen Schwierigkeiten und einer Flucht über die vereiste Donau gelang es Helene Kottannerin schließlich gemeinsam mit einem Helfer, die Krone in einem roten Samtpolster nach Komorn zu schmuggeln. Die typische schiefe Stellung des die Krone zierenden Kreuzes soll übrigens eine Beschädigung sein, die bei diesem Transport erfolgte.
Am Tag nach der dramatischen Sicherstellung der Krone kam die Königin-Witwe Elisabeth mit ihrem Sohn nieder. Doch die Krone brachte Ladislaus kein Glück. Bis sein Widersacher Władysław III. 1444 gegen die Osmanen fiel, mussten Ladislaus - oder besser die Vertreter des kindlichen Königs um sein Königtum kämpfen und sein Onkel Kaiser Friedrich III. entließ ihn erst nachdem er in der Burg zu Wiener Neustadt von den Gefolgsleuten Ladislaus belagert worden war aus der Vormundschaft. Nun wäre einer langen Herrschaft des jugendlichen Königs nichts mehr im Wege gestanden. Auch seine Hochzeit mit einer Tochter des französischen Königs war bereits geplant gewesen, doch Ladislaus verstarb wenige Monate vor seinem 18. Geburtstag.
Helene Kottannerin sollte ihren Schützling um fast zwei Jahrzehnte überleben. Ein genaues Todesdatum ist uns nicht überliefert, sie dürfte um das Jahr 1475 im für mittelalterliche Verhältnisse recht hohen Alter von rund 75 Jahren gestorben sein.
In Wien, wo die Kottannerin in zweiter Ehe mit dem Bürger Johann Kottanner, mit dem sie auch zwei Kinder hatte lebte und in den Hofdienst trat, finden sich noch heute die Spuren dieser mutigen Kammerfrau, die für ihre Herrin im wahrsten Sinne Kopf und Kragen riskierte.
Das Haus „Zur goldenen Schlange“, an der Ecke von der Kurrentgasse zur Steindlgasse gelangte 1451 in den Besitz der treuen Kottannerin. Ungeklärt ist, ob sie es tatsächlich als Belohnung für ihre Dienste erhielt, da sich im Grundbuch eine Eintragung findet, wonach sie das Haus als Abgeltung für eine uneinbringliche Schuld erhalten hätte. Ihre treuen Dienste wurden aber jedenfalls reich belohnt. Helene Kottannerin und ihr Mann erhielten das Gut Kisfalud in der Nähe des Neusiedlersees. Helene Kottannerin war auch nicht lange Besitzerin des Hauses „Zur goldenen Schlange“, denn sie verkaufte es bereits kurz danach wieder. Ihre finanzielle Situation jedenfalls muss insgesamt sehr gut gewesen sein, denn sie erwarb kurze Zeit später ein Haus im Bereich des heutigen Michaelertraktes der Hofburg, das sie nach ihrem Tod ihrer Tochter Katharina vermachte.
Quellen und Informationen:
Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin (1439-1440). Ins Neuhochdeutsche übertragen von Daniel Kufner. Download: https://phaidra.univie.ac.at/view/o:425704
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Helene_Kottanner
https://de.wikipedia.org/wiki/Helene_Kottannerin
https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/jancke-quellenkunde/verzeichnis/k/kottanner/index.html
https://docplayer.org/7576712-Die-kammerfrau-die-die-heilige-stephanskrone-stahl.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Ladislaus_Postumus
https://de.wikipedia.org/wiki/Stephanskrone
https://de.wikipedia.org/wiki/Visegr%C3%A1d